So nah, so fern

Von Christian Jakob · · 2019/Mar-Apr

Wie das Mittelmeer sein „integratives Wesen“ verlor und der Austausch zwischen Nord und Süd in Verruf geriet.

Das Mittelmeer hat schon bessere Zeiten erlebt. Auch wenn immer wieder verschiedene Mächte um die Vorherrschaft und Einflusssphären kämpften, war es über die Jahrhunderte hinweg stets auch ein Ort der Begegnung, des Austauschs und der kulturellen Bereicherung. Heute wird – vor allem in Europa – das Trennende betont. Insbesondere die Ablehnung des Islam eint all jene, die Vorurteile schüren und auf Abschottung setzen.

Große Nähe und doch radikale Distanz – so ambivalent zeigt sich heute das Verhältnis der Regionen zu beiden Seiten des Mittelmeers. Historisch changiert es seit jeher zwischen diesen Polen. In seiner großartigen Biografie des Mittelmeers zeichnet der britische Historiker David Abulafia dieses Schillern von Nähe und Ferne nach. Heute wird das Mittelmeer von Rechten als Grenze, als Puffer zum Islam imaginiert, verkennend, wie sehr Muslime längst Teil europäischer Gesellschaften sind. Lange hatte der Islam auch als Herrschaftsformation das Mittelmeer überquert. Ab dem 8. Jahrhundert hatte sich die muslimische Vormacht auf Marokko, Spanien („al-Andalus“) und später auch Sizilien ausgedehnt. Die südliche Hälfte des Mittelmeeres wurde zu einem muslimisch beherrschten Meer, was den Handel erblühen ließ.

Muslime im Nordafrika-Exil. Rund 600 Jahre hielt dieser Zustand an. Erst 1492, in dem Jahr, das auch den Beginn der Kolonisierung Amerikas markiert, eroberte das christliche Kastilien in der Reconquista die iberische Halbinsel zurück. Die muslimischen Morisken wurden zum Christentum zwangsbekehrt oder deportiert – an den Ort, der ihnen als Heimat von den Spaniern zugeschrieben wurde, aber keine war: Die BewohnerInnen der nordafrikanischen Küsten lehnten die Morisken ab. Denn nach Jahrzehnten christlicher Kampagnen gegen „maurische Praktiken“, schreibt Abulafia, hatten viele Morisken sich in Sprache, Kleidung und Sitten hispanisiert, viele trugen sogar spanische Namen. Sie brachten sogar amerikanische Früchte wie die Kaktusfeige nach Nordafrika. „Wenn sie nach Menschen suchten, die sie verstanden, wandten sie sich gelegentlich eher an die sephardischen Juden, die mit ihnen die nostalgische Erinnerung an das Spanien der drei Religionen teilten.“ Zwischen Juden und andalusischen Muslimen im nordafrikanischen Exil sei so „ein Gefühl der Verwandtschaft“ entstanden, schreibt Abulafia.

Phase des Ausschlusses. Sein „integratives“ Wesen habe das Mittelmeer nur in den „historisch betrachtet seltenen Phasen des Ausschlusses, bedingt durch politische und ökonomische Spannungen“ verloren. Heute, so schreibt Abulafia, sei wohl so eine Phase. Das Mittelmeer unserer Tage sieht er als „zerrissen, zerstückelt und zerbrochen“ an. Das zeigt sich auch daran, wie sehr die Vorstellung eines mittelalterlichen Kulturkampfs entlang des Mittelmeers heute wieder bemüht wird. Rechtsextreme Hacker und Blogger führen unter dem Label „Reconquista Germanica“ gleichsam militärisch organisierte Attacken im Netz. Und einer der Wortführer der nationalistischen Rechten, der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke, führte kürzlich aus, wie er sich die politische Zukunft vorstellt: „Wir werden die Macht bekommen – und dann werden wir durchsetzen, was notwendig ist, damit wir auch in Zukunft noch unser freies Leben leben können“, kündigte er bei einem Auftritt im Januar 2018 in Eisleben (Sachsen-Anhalt) ab. „Dann werden wir nämlich die Direktive ausgeben, dass am Bosporus mit den drei großen M – Mohammed, Muezzin und Minarett – Schluss ist.“

Grenz-Blicke

Das von der EU mitfinanzierte Projekt „Seitenblicke von den Grenzen“ widmet sich der Migration an den EU-Grenzen, nicht zuletzt im Mittelmeer. Ziel ist es, das Verständnis der relevanten globalen Zusammenhänge bei EntscheidungsträgerInnen und der Öffentlichkeit zu verbessern. Im Rahmen des Projektes, an dem auch Südwind beteiligt ist, wurden etwa Stimmen und Erfahrungen von den Grenzen gesammelt und verbreitet – darunter auch aus Lampedusa (Italien) oder Teneriffa (Kanarische Inseln/Spanien). Zudem soll ein Netzwerk etabliert werden, in dem sich Grenzstädte austauschen und unterstützen.

www.snapshotsfromtheborders.eu

Das Mittelmeer als imaginierte Demarkationslinie der Kulturen stand auch in jüngerer Vergangenheit in scharfem Gegensatz zur Realität. In Melilla und Ceuta, den spanischen Exklaven in Marokko, grenzen die EU und Afrika aneinander. Lange gab es dort nur einen Grenzstein. MarokkanerInnen und andere AfrikanerInnen überquerten die Grenze, um zu arbeiten. Auch für AlgerierInnen war der Weg in die Ex-Kolonialmacht Frankreich lange nicht allzu beschwerlich, und aus Tunesien fuhr die Mittelschicht noch in den 1980er Jahren gern einmal am Wochenende mit der Fähre nach Palermo, um einen draufzumachen. Grundlegend anders wurde die Lage ab dem Mai 1991: Da trat in Spanien das Schengener Abkommen in Kraft. Das Land gehörte fortan zu einem neuen Raum der Freizügigkeit: Europa. Und das verpflichtete es, seine Grenzen als die der neuen Schengen-Gemeinschaft zu schützen.

Am 6. November 2017 kam es im Mittelmeer zu einem Schiffsunglück, fünf Menschen starben. Die NGO Sea-Watch konnte im Zuge des Unglücks 58 MigrantInnen retten und versorgen. © Alessio Paduano

Das Ende einer Freizügigkeit. Spanien stand unter Zugzwang. Mit der innereuropäischen Freiheit war auch die Skepsis gewachsen. Ganz geheuer war vielen, vor allem in Deutschland, der Gedanke nicht, einen so wichtigen Teil der Souveränität ausgerechnet an Staaten abzugeben, denen man auch sonst nicht viel zutraute. 1991 entschied Spaniens sozialdemokratische Regierung, dass Marokkaner nun ein Visum brauchen. Die uralte Migrationsroute aus dem Maghreb-Raum nach Andalusien war unterbrochen. Die Freizügigkeit der AraberInnen wurde gegen die der Europäer getauscht.

Heute sind die Zäune um Ceuta und Melilla sechs Meter hoch, bewehrt mit Klingendraht, umgeben von einer Drahtseilkonstruktion, in der sich Arme und Beine verfangen. Tausende haben sich hier schwer verletzt, Dutzende starben. Die Exklaven wurden ein „Extremfall einer Gated Community“, schreibt der spanische Politologe Jaume Castan Pinos. Ebenso wie Spanien wurden in den folgenden Jahren auch die Regime von Libyen, Tunesien und Algerien mit Geld und diplomatischem Druck dazu gebracht, den Zugang zum Mittelmeer zu schließen – für die, die durch die Sahara kamen, aber auch für die eigenen BürgerInnen. Die nordafrikanischen Diktaturen aber waren für Europa nicht nur bei der Abwehr von MigrantInnen von zentraler Bedeutung. Ab 2001 gelobten sie Kooperation im „Krieg gegen den Terror“ und hielten islamistische Gruppen – wenngleich vor allem aus Eigeninteresse – teils gewaltsam klein. Sie erwiesen sich als verlässliche Bündnispartner bei der Etablierung neoliberaler Wirtschaftsbeziehungen – und sicherten Europa einen ungehinderten Zugriff auf die Erdölreserven der Region. Demokratie und Menschenrechte spielten keine Rolle. Das ging nicht lange gut.

Aufbruch im Arabischen Frühling. Der Arabische Frühling 2011 schrieb das Verhältnis von Maghreb und Europa zur Neubestimmung aus. „Mit dem Sturz von Ben Ali befreite sich nicht nur eine ganze Gesellschaft, sondern hörte auch die europäische Grenze im Mittelmeer für einen Moment auf zu existieren“, schrieb eine Gruppe von Publizisten um den italienischen Wissenschaftler Paolo Cutitta 2011. Was danach kam, war offen.

Die Dynamik des arabischen Frühlings strahlte bis nach Europa aus: Die Bilder vom Tahrir-Platz wurden zum Vorbild der basisdemokratischen Anti-Austeritäts-Bewegungen in Spanien und Griechenland. In Tunesien richtete sich der Protest gegen Armut und Diktatur, in Europa fühlten sich Menschen von den Regierungen nicht repräsentiert, die den Sparkurs der Troika aus IWF, EZB und Europäischer Kommission umsetzten. In der Kultur des Widerstands waren die Gesellschaften zu beiden Seiten des Mittelmeers sich plötzlich ganz nah.

Ein neuer regionaler Status Quo wurde gesucht. Die EU fragte nach der eigenen Verantwortung für die Langlebigkeit der kleptokratischen und autoritären Herrschaftscliquen, die im Arabischen Frühling fielen oder zumindest ins Wanken gerieten. Der EU-Kommissar für Erweiterung und europäische Nachbarschaftspolitik, Stefan Fuele, merkte im Februar 2011 an: „Die Massen in den Straßen von Tunis, Kairo und anderswo haben im Geiste unserer gemeinsamen Werte gekämpft. Mit ihnen müssen wir heute zusammenarbeiten und nicht mit Diktatoren, die unter der Missachtung von Menschenleben das Blut ihrer eigenen Leute vergießen.“

Folgen hatte diese Selbsterkenntnis keine. Direkt nach der friedlichen Revolution meldete sich der IWF und bot der tunesischen Regierung Kredite, wenn diese im Gegenzug dafür sorgen würde, dass die nun freien Gewerkschaften keine allzu hohen Lohnsteigerungen durchsetzen – vor allem Europa fürchtete um Tunesien als politisch stabile und äußerst kostengünstige „verlängerte Werkbank“. Die alten Feindbilder von Massenmigration und Islamismus wurden beschworen und prägen die Nachbarschaftspolitik, bis heute. Roberto Maroni, Italiens Innenminister unter Silvio Berlusconi, sprach angesichts der Tunesien-Flüchtlinge von der Gefahr eines „Exodus biblischen Ausmaßes“. Sein deutscher Amtskollege, der damalige Außenminister Guido Westerwelle (FDP) appellierte: „Die Menschen sollen in ihrer Heimat bleiben, den demokratischen Wandel unterstützen und sich am wirtschaftlichen Aufbau beteiligen.“

Dann kam 2015. Der Sommer der Migration 2015 und die Unfähigkeit der EU, die Migration von außen im Innern kollektiv zu regeln, schlug in den letzten Jahren um in eine autoritäre Formierung. Das Mittelmeer spielt hier eine entscheidende Rolle. Das Versprechen der Rechtspopulisten lautet, diese offene Flanke Europas ein für alle Mal zu versiegeln – egal, wie viele Tote das nach sich zieht. Um für diese Agenda gewählt zu werden, beschwören sie mit Worten wie „Messermigration“ das Feindbild des Islam auf der anderen Seite des Meeres als Quell von Kriminalität, Gewalt und kultureller Eroberung. Die politische Mitte lässt sich von dieser Agenda treiben, setzt aber gleichzeitig auf die ökonomische Kooperation. Zu besichtigen war dies Ende Oktober 2018, als Angela Merkel zum bislang größten Treffen afrikanischer Staatschefs in Berlin eingeladen hatte. Das sollte auch dazu dienen, die deutsche Investitionsfreude in Afrika zu befeuern.

Es ist die Fortsetzung zweier Initiativen, die Merkel während ihrer G20-Präsidentschaft im vergangenen Jahr startete – des Compact mit Afrika und der Reformpartnerschaften: Die Staaten bekommen günstige Kredite oder finanzielle Hilfen, wenn sie zeigen, dass sie Maßnahmen ergreifen im Kampf gegen Korruption, für mehr Menschenrechte und Stabilität im Wirtschafts- und Finanzsektor. Unter den auserwählten „Reformchampions“ ist Tunesien, Marokko soll bald hinzukommen. Wegen der katastrophalen Menschenrechtslage scheidet Ägypten als Reformpartner aus. Präsident Abdelfattah al-Sisi war dennoch auf der Konferenz zu Gast. Er präsentierte ein Siemens-Kraftwerk als Leuchtturmprojekt der deutschen Wirtschaft. Bei einer Pressekonferenz lobte Merkel den General aber noch aus einem anderen Grund: „Ägypten sichert Seegrenzen exzellent, de facto gibt es keine Migration aus Ägypten nach Europa, obwohl in Ägypten viele Flüchtlinge leben. Das ist hohe Anerkennung wert und so unterstützen wir Ägypten mit einem ungebundenen Kredit von 500 Millionen Euro.“ Offene Märkte, geschlossene Grenzen: Das ist Europas Vision für das Verhältnis zu Nordafrika.

Christian Jakob ist Reporter der tageszeitung und bereist regelmäßig die Länder rund ums Mittelmeer.

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